dpa, 15. oktober 2001

Kafka im Knast - Adorf startet Lesereihe an ungewöhnlichen Orten

Frankfurt/Main (dpa) - An der Gefängnispforte ist Mario Adorf nicht kontrolliert worden. Der prominente Darsteller kapitaler Bösewichte ist auch an Orten wie der Frankfurter Justizvollzugsanstalt IV bestens bekannt. Am Sonntagabend stellte Adorf sein Können und seine Prominenz in den Dienst eines Autors, der bei Lesungen landläufig als schwer vermittelbar gilt: Franz Kafka (1883-1924).

Mit der Lesung im Knast starteten die Kafka-Forschungsstelle Wuppertal, der S. Fischer-Verlag und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) eine auf ein Jahr angelegte Lesereihe, in deren Verlauf prominente Schauspieler an ungewöhnlichen Orten Texte des berühmten Prager Literaten vortragen werden. Im Frankfurter Freigänger-Gefängnis erinnerte allerdings nur wenig an Kafkas morbide "Strafkolonie". Der Saal glich in seinem 60er Jahre-Stil eher einer Schulaula, und auch Gefängnisdirektor Werner Päckert hatte nichts mit dem sadistischen Kommandanten gemeinsam, der in der Erzählung eine literarische Folter- und Tötungsmaschine entwickelt hat.

Die Insassen hätten erst gar nicht geglaubt, dass Adorf tatsächlich bei ihnen lesen würde, berichtet Päckert wohlgelaunt. Der Andrang auf die rund 30 den Insassen vorbehaltenen Karten sei dann aber heftig gewesen. Besondere Sicherheitsmaßnahmen hatte es an dem Abend nicht gegeben, eine einfache Ausweiskontrolle am Eingang musste genügen.

Adorf hat schon des öfteren in Gefängnissen gelesen und sich auch rollenbedingt häufig mit der Welt hinter Gittern auseinander gesetzt. "Wir alle haben da Berührungsängste, dabei hört das Leben ja nicht auf da drinnen." Er versuche, sich das Leben und die psychischen Belastungen hinter Gittern vorzustellen. "Das ist so ähnlich, wie einen Kranken zu spielen, der an etwas leidet, was einem selbst erspart geblieben ist", sagt der 71-jährige Adorf, der gerade unter der Regie von Dieter Wedel ("Der Schattenmann") einen Krebskranken gespielt hat.

Die geplante Lesereihe an ungewöhnlichen Orten zeichnet sich nach dem ersten guten Erfolg in Frankfurt allerdings erst schemenhaft ab. Zusagen, so berichtet Organisator Christian Watty, gebe es bislang von Ben Becker, Mechthild Grossmann, den Geschwistern Pfister und Irm Herrmann. Dirk Bach will man gerne im Frankfurter Maggi-Kochstudio den Hungerkünstler lesen lassen, angefragt sind auch die Schauspieler Moritz Bleibtreu und Katharina Thalbach. Die genauen Daten kommender Veranstaltungen sollen auf der Internet-Seite www.kafkaerlesen.de veröffentlicht werden.

Den Kafka-Streitern geht es vor allem darum, den Literaten aus der Schublade "dunkel, deprimierend und tragisch" heraus zu holen. Seine vielschichtigen Texte enthielten auch humorvolle und komische Seiten. Vorgelesen entfalten die meisterhaften Erzählungen Kafkas ihrer Ansicht nach eine noch stärkere Wirkung.

CHRISTIAN EBNER

14. Oktober 2001
Mario Adorf las
"In der Strafkolonie"
Justizvollzugsanstalt
Frankfurt-Preungesheim


© dpa

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Frankfurter Rundschau, 16. Oktober 2001

Knastmond

Aus den Boxen leise Elton-John-Musik. Blue eyes und Candle in the wind. Wie wär's stattdessen mit Johnny Cash At San Quentin? Dann Ausblende. Der Gefängnisdirektor stellt erstmal eine Sache klar: Wir befinden uns nicht in einer Strafkolonie. Applaus aller Anwesenden. Aller?

Wir befinden uns in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt am Main IV im Norden Frankfurts, die auf den ersten Blick eher wie ein Sanatorium mit ein bisschen Stacheldraht aussieht. Zumindest auf den ersten Blick. An der Eingangsschleuse Ausweiskontrolle, alle Besuchernamen wurden notiert. Auf Feilen oder Metallsägen wurde keiner gefilzt. Dazu sehen wir wohl einfach zu intellektuell aus. Wenn sich da mal keiner täuscht. Hinter uns fielen die Stahltüren in Schloss, rumms. Männer mit Funkgeräten.

Mario Adorf wird Kafkas In der Strafkolonie vorlesen, vor Sträflingen und geladenen Gästen. Sein Honorar geht in Form einer Bücherspende an die Gefängnisbibliothek. Gut so, denn gerade ein Sträfling lebt nicht vom Brot allein. Hans-Gerd Koch, der Herausgeber der kritischen Kafka-Ausgabe bei S. Fischer, hatte die Idee. Ich blicke mich um, die Gefängnisinsassen sollen in den hinteren Reihen sitzen, aber die Leute dort sehen alle irgendwie promoviert aus.

Nur einer entspricht der Vorstellung eines harten Burschen: Boxernase, Glatze, Narben im Gesicht. Aber freundliche Augen. Der Mann hat in sich hineingesehen. Wie ich später von ihm erfahre, heißt er André M., sitzt wegen Drogen- und Waffenhandel und Mitgliedschaft in einer organisierten Bande und sieht für sein Leben gern das "Literarische Quartett". Shakespeare hat er auch gelesen, aber er habe Schwierigkeiten dabei, gesteht er, ihm fehle das "Geschichtliche". Wenn alles gutgeht, kommt er im Februar raus. Die Schwierigkeit dabei wird sein, ohne den Kick des Kriminellen zu leben.

Koch, der Kafka-Herausgeber, der etwas Mackie-Messerhaftes hat, mit Strich- und Spitzbärtchen und glühenden Augen, gibt eine Einführung. Wie grausam absolute Gerechtigkeit sein könne, wie der Buchstabe des Gesetzes töten könne.

Auftritt Mario Adorf: " . . . der Verurteilte, ein stumpfsinniger, breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar und Gesicht und ein Soldat . . . , der die schwere Kette hielt, in welche die kleinen Ketten ausliefen, mit denen der Verurteilte an den Fuß- und Handknöcheln sowie am Hals gefesselt war und die auch untereinander durch Verbindungsketten zusammenhingen" und: "Das Urteil ist immer zweifellos." Auch bei den grausigsten Stellen fällt keiner in Ohnmacht wie am 10. November 1916 in der Münchener Galerie Goltz, als Kafka selbst seine Geschichte vorlas. Nicht nur die Knastbrüder und -schwestern sind ja heute einiges gewohnt aus dem Horrorsektor. Aber es ist ein Stöhnen zu hören bei der Stelle mit der unerhörten Kadenz: "durch die Stirn ging die Spitze des großen eisernen Stachels".

Als Mario Adorf nach der Lesung die Gefängnisschleuse passiert, bittet ihn das Kamerateam, noch einmal zum Mitfilmen den Pass zu nehmen und die Tür hinter sich zufallen zu lassen. Geduldig macht er das zwei, drei, vier Mal. Dann verschwindet er aus dem Licht der Gefängnisscheinwerfer, des "Knastmondes", wie es in der Sprache der Sträflinge heißt, in die Dunkelheit. Ein Vogel ging einen Käfig suchen.

mmr

 

 

 

 

 

 

















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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.2001

An ungewohntem Ort
Mario Adorf liest im Gefängnis aus Kafkas "Strafkolonie"

Wie mit spitzer Feder zu Papier gebracht, zeichneten sich die Konturen des Maschendrahts vor dem dunklen Himmel ab. Scheinwerferlicht beleuchtete die Gebäude, deren Besucher einzeln und nach Kontrolle der Ausweise den Besuchereingang passieren durften. Zwei Stunden lang diente die Frankfurter Justizvollzugsanstalt als Kulisse der ersten Veranstaltung eines ungewöhnlichen, von der Kafka-Forschungsstelle Wuppertal in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag und der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veranstalteten literarischen Projekts. In der Reihe "Kafka:erLesen" sollen prominente Schauspieler an wechselnden Orten Texte des Prager Schriftstellers vortragen.

Dichtes, graumeliertes Haar, kräftiger Körperbau: Mit energischen Schritten durchmaß Mario Adorf den Hof zum Gustav-Radbruch-Haus, um dort aus der von Hans-Gerd Koch herausgegebenen Fischer-Taschenbuchausgabe der Gesammelten Werke Kafkas die Erzählung "In der Strafkolonie" zu lesen.

Der Ort war mit Bedacht gewählt; dennoch mutete weder der Außenbereich noch das Innere des Hauses finster oder gar unheimlich an. Nichts erinnerte an die bedrohliche Atmosphäre des in unmittelbarem Zusammenhang mit Kafkas fragmentarischem Roman "Der Prozeß" stehenden Textes, der 1919 erstmals erschienen war. So bezeichnete der Direktor der Vollzugsanstalt, Werner Päckert, diesen in seiner Begrüßung dann auch als Erzählung, die zum Nachdenken anregen solle. In das Ambiente passe er jedoch nicht allzugut, da das Gustav-Radbruch-Haus keineswegs eine Strafkolonie im kafkaesken Sinne sei. Vielmehr bemühe man sich um humanen Strafvollzug. Bei Kafkas Strafkolonie handele es sich nicht um einen realen, sondern einen utopischen Ort, betonte Hans-Georg Koch: "So etwas wie ein Arkadien, wo vollkommene Gerechtigkeit herrschen sollte." Wie grausam diese sein könne, habe Kafka in seinem Text vorgeführt.

Ein namenloser Forschungsreisender wird eingeladen, einer Exekution in der Strafkolonie beizuwohnen. Vorgenommen wird diese mittels eines "eigentümlichen Apparates", den der verstorbene Kommandant der Kolonie erdacht und konstruiert hat. Die Maschine, die ein richterliche Funktionen ausübender Offizier dem Reisenden erklärt, besteht aus drei Hauptteilen: dem vibrierenden "Bett", auf das der Verurteilte bäuchlings geschnallt wird, dem darüber befestigten "Zeichner", der das Antriebsräderwerk enthält, und der dazwischen schwebenden Egge. Diese - ein mit Nägeln besetztes Stahlband - schreibt - oder besser sticht - dem Verurteilten das übertretene Gebot "auf den Leib". Weder wird der Betreffende zuvor von seiner Verurteilung in Kenntnis gesetzt, noch hat er die Möglichkeit der Verteidigung, denn seine Schuld ist "immer zweifellos".

Ein durch das vollkommene Mißverhältnis von Strafmaß und Schuld, die Unwiderruflichkeit des mechanischen Strafvollzugs und die genaue Schilderung der barbarischen Exekution beklemmender Text. Seine Wirkung erzielte er dank eines glänzenden Vorlesers. Mit voller Stimme, die den gräßlichen Details etwas von ihrer Schärfe nahm, trug Adorf die Erzählung vor. Ließ das niemals offen zur Schau getragene Entsetzen des Reisenden fühlbar werden, spürte den Gedankengängen des Offiziers nach, ohne ihn teuflisch erscheinen zu lassen, und lenkte dabei den Fokus auf die schwierige Frage von Gesetzesordnung und Schuld.

KATJA MÖHRLE

 

 

 

 

 


















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all-around-new-books, November 2001

Adorf und Kafka im Knast
Mario Adorf beginnt ungewöhnliche Lesetour an ungewöhnlichen Orten

Kafka - entweder man hasst ihn oder man liebt ihn. Dazwischen gibt es für die meisten nicht allzu viel. Für die einen waren seine Texte im Deutschunterricht ein zu absolvierendes Übel, für die anderen das reinste Vergnügen. Der Prager Autor Franz Kafka (1883 - 1924) gilt allgemeinhin als "dunkel, deprimierend und tragisch".

"Das muss anders werden", dachte sich die Kafka-Forschungsstelle Wuppertal und holte sich den S. Fischer Verlag und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) mit ins Boot, um eine einjährige Lesereihe zu starten, in deren Verlauf prominente Schauspieler an ungewöhnlichen Orten aus dem Werk Kafkas lesen werden, um den Prager Literaten aus der Versenkung zu befreien und seine humorvollen und komischen Seiten ins Bewusstsein seiner alten und hoffentlich neuen Leser zu befördern.

Für die Auftaktveranstaltung am Sonntagabend in Frankfurt haben die Veranstalter - passend zum Text "In der Strafkolonie" - die Justizvollzugsanstalt IV gewählt und sich dazu gleich einen der privilegiertesten "Vorleser" und versiertesten Schauspieler (und selbst Autor) Deutschlands geholt: Mario Adorf.

Und wer hätte es schon gewagt, ihn an der Gefängnispforte kontrollieren zu wollen? Selbst bei den geladenen Gästen genügte in diesem Fall eine simple Passkontrolle. Ein karger, nicht allzu großer Raum, weiß getünchte Wände, keine Gitterstäbe ringsum. Nicht die übliche Knast-Atmosphäre, die man aus Film und Fernsehen im Kopf hat. Auch der Gefängnisdirektor Werner Päckert hat so gar nichts mit dem unmenschlichen Kommandanten aus der kafkaesken Erzählung gemeinsam.

Im Gegenteil: Er erzählt gut gelaunt vom Ansturm auf die 30 Karten, die den Insassen vorbehalten waren und die zunächst nicht glauben wollten, dass Adorf wirklich bei ihnen lesen würde. Dann ist es soweit. Mario Adorf, ganz in Schwarz, betritt den Raum, setzt sich an den Tisch, schlägt das Buch auf. Absolute Stille. Wäre in diesem Moment ein Blatt Papier zu Boden gefallen, man hätte es einer ohrenbetäubenden Detonation gleichsetzen können.

Er beginnt zu lesen - von dem mittlerweile verstorbenen sadistischen Kommandanten, der eine Folter- und Tötungsmaschine entwickelt hat, die dem Verurteilten während der Hinrichtung auch noch den ihm nicht bekannten Urteilsspruch in die Haut ritzt. Der zuständige Offizier ist nach wie vor ganz verzückt von dieser "Egge", während der neue Kommandant ein Gegner des Ganzen ist. Ein Reisender kommt vorbei und der Offizier versucht, ihn für diese Art der Hinrichtung zu begeistern. Doch der Reisende kann sich - genauso wenig wie der neue Kommandant - damit identifizieren. Und so lässt der Offizier den bereits Verurteilten frei und legt sich selbst unter die Egge.

Mario Adorf erfüllt seine Aufgabe bravourös. Kafka hat mit ihm ein ideales Sprachrohr gefunden; einen Mann, dessen sonorer und eindringlicher Stimme man fasziniert lauscht, die einen zuweilen fast das Vorgelesene überhören lässt, so nachhaltig und eindringlich vermag er sich in die Protagonisten der Erzählung hineinzuversetzen - und nicht ohne an einigen Stellen Gänsehaut und Entsetzen bei den Zuhörern auftreten zu lassen.

Nach 35 Seiten und 75 Minuten ist Schluss. Leider.

Sich Kafka von Adorf vorlesen zu lassen, ist ein Genuss par excellance. So hat denn auch diese Auftaktveranstaltung ihr beabsichtigtes Ziel nicht verfehlt. Denn den Veranstaltern geht es vor allem darum, Kafka aus der "dunklen, düsteren" Schublade herauszuholen, zu zeigen, dass seine vielschichtigen Texte eben auch humorvolle und komische Seiten enthalten. Und sie sind der Meinung, dass die Erzählungen Kafkas noch eine stärkere Wirkung entfalten, wenn sie vorgelesen werden. Zumindest bei dieser Lesung haben sie damit hundertprozentig Recht behalten.

Man darf also gespannt sein, wie es weitergeht. Wie der Organisator Christian Watty berichtet, gibt es für weitere Lesungen aus dem Werk Kafkas bereits Zusagen von Ben Becker, Mechthild Grossmann, den Geschwistern Pfister und Irm Herrmann. Sogar Dirk Bach soll lesen - den "Hungerkünstler" - und das im Frankfurter Maggi-Kochstudio. Angefragt sind auch Moritz Bleibtreu und Katharina Thalbach.
(Evelyn Schaust-Weber)

Bitte besuchen Sie für weitere Informationen direkt
http://www.all-around-new-books.de/specials/kafka_adorf.shtml
http://www.all-around-new-books.de/start/start.shtml

 

 

 

 

 

 

 

 

 























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