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Rheinische
Post, 29. September 2002
Kafka
macht Spaß
Beim
Altstadtherbst lasen sechs Schauspieler aus Kafkas Roman "Der Prozess".
Und siehe da: Der Autor zeigte sich von einer heiteren Seite. Anlass zu
einem Brief unserer Redakteurin an Franz K.
Sehr verehrter,
lieber Franz K., lange schon zählen deine Werke zum Schatzkästlein
unserer Literatur, ach was, zur Weltliteratur, aber erst an diesem letzten
denkwürdigen Wochenende haben wir erfahren, wie es darin bei aller
finalen Tragik doch so witzig, so komisch zugeht, dass es das reine Vergnügen
ist. Nie hätten wir geglaubt (oder haben wir da etwas in einer entlegenen
Gedächtnisschachtel verhungern lassen?), dass uns ein Kafka amüsieren,
Spaß machen könnte. Als wir jetzt beim Altstadtherbst saßen
und deinem "Prozess" in sechs von namhaften Schauspielern rezitierten
Portionen "Kafka: erlesen" lauschten, da verstanden wir nicht
mehr, wie wir so lange das Vorurteil vom deprimierten Kritzler für
bare Münze nehmen konnten.
In unserer
Erinnerung ist alles, was Kafka ist, als gemeinhin schwierig, rätselhaft,
gar neurotisch beschrieben worden. Deine Texte verkaufte man uns gewohnheitsmäßig
als Flüsschen, durch das stets der Blick auf einen zerquälten,
deformierten Seelengrund freigegeben war. Man sprach über das Werk
und meinte doch eigentlich die Neurosen seines Verfassers, namentlich
den ewigen Konflikt mit dem Vater und natürlich die versprochenen,
verschobenen, eingelösten und dann doch wieder gelösten Verlöbnisse
mit Felice Bauer. Als Studenten fanden wir in einem Grundlagenbändchen
über "Methoden der Literaturanalyse im 20. Jahrhundert"
deine, wohl buchstäblich deine "Verwandlung" als Textbeispiel,
an dem uns die Vorgehensweise einer psychoanalytisch orientierten Literaturbetrachtung
erläutert wurde.
Hast es vielleicht
durch deine sperrigen, sich zupackender Interpretation verweigernden Texte
selbst provoziert, dass das Dechiffriergewerbe an dir verzweifelte, sich
und endlich dich vollständig verdüsterte. Kafka deuten, das
hieß ja: Es könnte so sein. Es könnte aber auch anders
sein. Was soll denn einer, der für die Literatur immer gleich eine
Gebrauchsanweisung haben will, auch anfangen mit deinem 1915 niedergeschriebenen,
von dir selbst als "unvollendet, unvollendbar, unpublizierbar"
gescholtenen Roman "Der Prozess", in dem der Bankbeamte Josef
K. verhaftet, für schuldig befunden und schließlich hingerichtet
wird, ohne dass je zu erfahren ist, wessen er sich schuldig gemacht hätte?
Betrachten
wir das, was uns der Altstadtherbst zu hören und zu denken gab, als
überfälligen Neuanfang in deiner Sache, in der Sache Franz K.
Es wurde uns aber auch höllisch gut vorgetragen, spielerisch, lebendig,
voller Gespür für die feine Komik und Ironie, mit der "Der
Prozess" seinen immer verwickelteren Lauf nimmt.
Irm Hermann
und Mechthild Großmann beispielsweise waren großartige, im
Rollenspiel mit sich selbst virtuose, kühne Interpretinnen, deren
Vortrag zum Ende Bedauern darüber aufkommen ließ, dass bei
Lesungen gewöhnlich keine Zugaben zu erwarten sind. Die beiden fanden
ihr komisches Talent in Kafkas "Prozess" gespiegelt und lösten
leichthin das erklärte Ziel der Lesereihe ein: Kafka, den Humorvollen,
vorzustellen.
Die gewiss
gute und sinnige Absicht der beiden organisierenden Literaturwissenschaftler
Christian Watty und Hans-Gerd Koch, die Lesungen an ungewöhnlichen,
mit dem jeweiligen Kapitelinhalt korrespondierenden Orten abzuhalten -
ein Friseursalon, der Schwurgerichtssaal des Landgerichts, die Kundenhalle
einer großen Bank, die Kunstakademie, eine Anwaltskanzlei und die
barocke St.-Andreas-Kirche waren Leseorte - sorgte zuallererst für
Bewegung beim Publikum (was nach langem Stillsitzen nicht das Schlechteste
sein soll). Waren aber die ersten Sätze erklungen, versank bald alles
um uns herum, denn auch die nachfolgenden Rezitatoren verstanden es, ihr
Publikum auf ihre Art in Kafka zu versenken: Meret Becker ein wenig stolprig
wie in Traum und Trance, was bisweilen den Eindruck von Zähigkeit
aufkommen ließ, aber das hält ein Kafka aus; Mathieu Carriê
re im scharfen, donnernden Galopp, der etwas häufiger durch Trab
und Schritt hätte nuanciert werden können; Hannelore Hoger wie
ein scharfkantiger Felsen in der Wortbrandung; nicht minder souverän:
Jürgen Holtz.
Die Lesereihe
war beste Werbung in allerbester Sache: fürs Vorlesen an sich, für
die Literatur im Allgemeinen und Kafka im Besonderen.
Sehr verehrter,
lieber Franz K., so wie dein großer Freund und Rezitator Ludwig
Hardt einst Thomas Mann zur Kafka-Lektüre verführte, so mag
es nach diesem Wochenende dem einen oder anderen Zuhörer gehen. Wir
erlauben uns daher, ein Zitat von Kurt Tucholsky, übrigens der Abschluss
seiner "Prozess"-Besprechung, wie folgt abzuwandeln: Wir durften
hören, lesen, staunen, danken.
CORDULA HUPFER
Süddeutsche
Zeitung, 29. September 2002
Zeugen der Anklage
"Kafka:
erLesen!" - Schauspieler tragen in Düsseldorf den Roman "Der
Proceß" an authentischen Schauplätzen vor
Düsseldorf
- "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben". Irm Hermann
liest das nicht ab, sie sagt es frei heraus ins Publikum - einen der berühmtesten
Anfänge der Weltliteratur. Franz Kafkas "Der Proceß"
mit c - wie Couture. Im Atelier des Modemachers Hanns Friedrichs beginnt
die Lesereihe - einem Salon, mit Putzwerk in Acryl-Vitrinen "überfüllt"
gleich dem Wohnzimmer von Herrn K.'s Vermieterin, Frau Grubach. Initiiert
von Hans- Gerd Koch und Christian Watty von der Kafka-Forschungsstelle
Wuppertal und zu Gast beim Düsseldorfer Altstadt-Herbst, werden prominente
Schauspieler an "Original"-Schauplätze gebeten: Werbung
für den Dichter aus Prag, dessen Erzählwerk "barbarische
Spekulationen" (Walter Benjamin) befördert. "Höllisch
gern", schrieb Kafka 1912 an Felice Bauer, habe er selbst vorgelesen.
Irm Hermann, die den Beginn - Verhaftung und nächtliche Begegnung
K.'s mit Fräulein Bürstner - vorträgt, war Fassbinders
Heroine der niederen Rollen, der Gedemütigten oder der kleinbürgerlich
stupid Auftrumpfenden. Sie hat jene leicht süddeutsch modulierte
volkskluge Sprachfärbung, die ideal dem schlichten und widersinnigen
Vorgang der Verhaftung entspricht. Eine Therese- Giehse-Stimme, nur eine
Tonlage spitziger und doch auch milder, in der zugleich "etwas Verzeihendes"
liegt, wie es von Herrn K. einmal heißt. Sie endet mit einem sacht
mokanten Lächeln und eben solchem Augenaufschlag. Da war das hinter
den gepolsterten Atelierwänden manchmal verstörend hervordringende
leise Gurren einer Taube längst wieder verstummt. Es hatte geklungen
wie ein armseliger Notschrei.
ANDREAS WILINK
Im Wettlauf
mit der Zeit
Auf die große, nur mit kleinen schwarzen Strichen auf die Wand markierte
Uhr legt die Herbst-Sonne die schattigen Streben der Fenstergitter. Das
regelmäßige Knacken der Zeiger im Flur der Kunstakademie lässt
die Zeit hörbar verrinnen. Eindrucksvoller und sinnbildlicher ließe
sich der Raum für eine solche Lesung kaum inszenieren. Als wolle
er dieser monotonen Gleichmäßigkeit der Zeit trotzen, hastet
Mathieu Carrière durch jenen Abschnitt des Romans, in dem K.von
dem Advokaten und dem Maler Titorelli in die innere Unlogik des Systems,
welches mit Recht scheinbar so wenig zu tun hat, eingeführt wird.
In Rage liest sich der Schauspieler, als gelte es, die Stimme für
K. zu erheben.
Laut hallt es durch die Gänge der Akademie, dann und wann unterbrochen
vom Gelächter der Zuhörer. Geradezu schwindeln lässt dieser
auf Tempo gelesene Kafka, lässt die präzise Rasanz, mit der
Carrière die Winkelzüge und Unwägbarkeiten des Prozesses
zu Gehör bringt. Und nur der Blick auf die unerschütterlich
fortschreitenden Zeiger der Wanduhr vermag diesen Taumel wieder zu entschleunigen.
ANDREJ KLAHN
In den Kanzleien
Die Eingangstür zum Landgericht wirkt zwischen den aufragenden Steinsäulen
klein wie ein Mauseloch. Auf dem Weg durch die Eingangshalle vergisst
man für einen Augenblick, dass man nicht hier ist, um sich selbst
für ein Vergehen zu verantworten. Im vollen Schwurgerichtssaal liest
Mechthild Großmann dann aus "Erste Untersuchung" oder
"Im leeren Sitzungssaal" überschriebenen Kapiteln. Wo sonst
fünf Richter thronen, liest sie allein. Besonders bei den Dialogpassagen
macht dies Sinn: Da scheint ihre Stimme die leeren Stühle um sich
herum zu füllen, nehmen die nuanciert gesprochenen Figuren Gestalt
an. Kratzig rau, aber auch leise und zart - Großmanns markantes
Timbre befremdet zunächst, aber lässt einen dann nicht mehr
los. Besonders Kafkas Komik präpariert sie heraus. Die Begegnung
K.'s mit der Frau des Gerichtsdieners und später dem gehörnten
Ehemann erntet Lacher, die man in dem Saal gewiss selten hört.
MAIK PLATZEN
Wenn die
Bank ruft
Mit eiligen Schritten geht Meret Becker auf das schwarze Podium zu. Sonst
ist das wohl die Info-Theke im großen, stilvollen Schalterraum der
Commerzbank. Jetzt wirkt dieser Terminal wie eine Richterbank und Meret
Becker im schwarzen Rock, dem weißen Hemd mit den spitzen Kragen,
mit den streng nach hinten gesteckten Haaren wie eine Aufseherin. Allzu
geschäftig ordnet sie ihren Arbeitsplatz, perfekte Gehilfin eines
Systems, das undurchdringlich bleibt. K. ist Prokurist bei einem Geldinstitut,
gut, aber ist eine Bank besser als jeder andere Ort für den absurden
Schrecken des Prüglers in der Abstellkammer, für den Besuch
beim bettlägrigen Advokaten? Das herbeiströmende Publikum fühlt
sich vom Konkreten angezogen.
Auf jeden Fall ist Meret Beckers kaum zu bezwingende Energie, ihre manchmal
fast hysterisch aufschrillende Stimme die Verbindung zu den Frauen, die
Kafkas Romane bevölkern und den Helden K. zwangsläufig irgendwann
zu sich hinab in den Sumpf ziehen. Hier ist der Abend in der großen
Bank am stärksten. Wenn Meret Becker zur Verkörperung aller
Frauen K's wird, all der Fräulein Bürstners und Lenis, die sein
Universum wie triumphierende Irrlichter bevölkern: indiskret, verführerisch,
sinnlich, statt Helferin in der Not in Wahrheit das größte
Hindernis. Und der schicke Schalterraum? Wie sagte Mechthild Großmann,
die der Lesung beiwohnte: "Letztlich geht es beim Zuhören darum,
dass man den Ort, wo man ist, für eine Weile vergisst."
HARALD HORDYCH
NRZ, 29.
September 2002
Lesereise zwischen Salon und Gericht
Kafkas "Der Prozess" lebte an sechs Stationen wieder auf.
"Jemand
mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses
getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet." So lautet der erste
Satz des Romans "Der Prozess", den Franz Kafka 1915 unvollendet
aufgab. Dennoch wurde das Buch zu einem Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts,
stellt es doch mit dem Protagonisten Josef K., der im Verlauf der Handlung
auf K. reduziert wird, den Prototypen des sich in einer Welt der Bürokratie
und undurchschaubaren Mächte verlierenden Individuums dar. Komplett
vorgelesen wurde der Roman am Wochenende im Rahmen des Altstadtherbstes
in sechs Stationen, und es wurde eine aufregende Lesereise zwischen Salon,
Gericht und Akademie.
Meret Becker und Hannelore Hoger gehörten zu den bekannten Namen,
die Kafka in Szene setzten. Den Anfang machte die Schauspielerin Irm Hermann,
Kultfigur zwischen Fassbinder und Schlingensief. Im "Salon",
eigentlich dem Atelier des Modeschöpfers Hanns Friedrichs am Jürgensplatz,
setzt sie sich ganz dezent an ihren Platz und spricht die klassischen
Eröffnungssätze. Auch der Kollege Mathieu Carriere, der am Sonntag
in der Kunstakademie las, saß im Publikum.
In verhaltenem Ton mit fränkisch klingendem rollenden R liest Irm
Hermann von der Verhaftung Ks im Haus seiner Wirtin. Und da deren Salon
eine Rolle spielt, wird so die Verbindung zum Ort der Lesung hergestellt.
Die erinnert mit ihrem diskreten Charme der bürgerlichen Eleganz
aber nur entfernt an das kafkaeske Ambiente. Die Augen werden einem erst
geöffnet, wenn man nach der Lesung auf die Straße tritt. Dann
fällt der Blick auf das gegenüberliegende Polizeipräsidium
und die dort angebrachte Tafel: "Vor dem Gesetz sind alle Menschen
gleich." Also doch gut gewählt der Ort, und der Satz führt
den Zuhörer auch direkt ins Gericht auf der Mühlenstraße,
wo Mechthild Großmann liest.
Staatsanwältin im Tatort
Auch hier, wie im Salon, sind alle Plätze besetzt, zusätzliche
Stühle werden herbeigeschafft. Wie es der Zufall will, wird Mechthild
Großmann demnächst in einer neuen Tatort-Reihe eine Staatsanwältin
spielen. Sie liest expressiver als Irm Hermann, aber auch dieser Stil
passt zu Kafka, der auf dieser Lesereise sicherlich einiges von seinem
Image als düsterer, "schwerer" Schriftsteller verloren
hat. Das Mikrofon, durch das Großmann liest, verfremdet die Lesung
auf eine Weise, die Kafka wahrscheinlich gefallen hätte. Fazit: eine
großartige Idee, die Hans Koch und Christian Watty aufs Trefflichste
inszeniert haben. Jetzt bleibt nur noch eins: Mehr Kafka lesen.
THOMAS HAG
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