Westfälischer Anzeiger, 25. Juni 2003

Ironisierter Kafka im Hafen-Speicher
Mechthild Großmann las den "Heizer" im passenden Ambiente

Durch den zum Wasser hin offenen, hohen Betonraum weht der Geruch von Kanal und feuchten Wänden. Die Abendsonne scheint auf die fleckigen Wände, die erleuchtet sind von senkrecht strahlenden Scheinwerfern in Türkis und Blau. An die Wand projiziert ist das Dia eines Schiffes vor der Kulisse des New Yorker Hafens. Zu diesem Ambiente passt die zigarettenraue Stimme, mit der die scharfen, präzisen Sätze Franz Kafkas auf ungewohnt süffisante Art vorgetragen werden, während von draußen ein leises Brummen der Geschäftigkeit dringt. Einen passenderen Ort als den Speicher der Firma Jäckering im Hammer Hafen hätten die Veranstalter von der Volkshochschule kaum finden können für die Lesung des 1912 entstandenen Romanfragments "Der Heizer". Die Schauspielerin Mechthild Großmann machte hier am Montagabend Station im Rahmen einer Lesetour, die prominente Mimen unter dem Motto "Kafka erLesen" seit 2001durch Deutschland führt. Das Konzept, Kafkas Text durch den Ort der Lesung einen realen Bezug zu geben, ging überraschend gut auf: Die beklemmende Atmosphäre, die Kafka-Texte häufig begleitet, löste Großmann auf, indem sie die Geschichte mit amüsiertem Unterton im Stil einer ironisch-bissigen Anekdote las. Die Charakterisierung der handelnden Personen trat durch ihren teils komödiantischen Stil deutlich zu Tage. Mit ruhiger Stimme las die Schauspielerin. Je nach Charakter variierte die Tonhöhe, klang sie zaghaft als Karl Roßmann, tief und ungeschliffen als Heizer, im Brustton der Selbst-Überzeugung als einflussreicher amerikanischer Onkel, kleinlich-pflichtbewusst als Kapitän. Der schnelle Fluss des Lesens, kombiniert mit Kafkas detailreichen Beschreibungen, widersprach der weit verbreiteten Auffassung, Kafka habe nur als vatergeschädigter Depressiver geschrieben und enthüllte dabei oft unerwartete Ironie. Letztlich entpuppte sich der "Heizer" auch als Typenstudie. So arbeitete Großmann intensiv mit Händen und Oberkörper: Die Schauspielerin griff sich kokett ans Revers, ordnete rasch die Haare und deutete mit Gesten die Reaktionen und Körperhaltungen der beteiligten Personen an. Die Gesichter der rund 60 Erschienen verrieten Konzentration, manche lächelten über die zugleich handfeste und subtile verbale Interpretation des "Heizers", die Großmann lieferte. Schließlich belohnte anhaltender Applaus diese anspruchsvolle Unterhaltung.
(Edda Breski)

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23. Juni 2003, 19.30 Uhr
Mechthild Großmann las
"Der Heizer"
Speicher der Fa. Jaeckering
Speicherweg
Hafen Hamm






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