Marbacher Zeitung, 17. Februar 2003

Lesung im Rahmen der Kafka-Ausstellung auf der Schillerhöhe
"Das war eine schöne Geschichte"
Mechthild Großmann gestaltet "Heizer"-Erzählung lebhaft

MARBACH. Seit knapp drei Monaten läuft im Schiller-Nationalmuseum die Ausstellung "Kafkas Fabriken". Da ist es gut, dass auch das benachbarte Deutsche Literaturarchiv des Literaten gedenkt. Die Schauspielerin Mechthild Großmann las die Erzählung "Der Heizer" vor.

Sie ist eindeutig eine Frau. Man erkennt es am Gesicht, an der lockigen Mähne, am femininen, dekolletierten Schnitt des schwarzen Hosenanzugs. Doch wenn sie Kafkas Schiffsheizer ihre Stimme verleiht, reibt man sich die Augen und schaut nochmals hin. Um diese sonore Tiefe wird mancher Basssänger sie beneiden.
Kafkas Sprache ist intensiv und penibel, dennoch flüssig und eingängig. Genau so liest Großmann. Tief über den Blättern gebeugt beginnt sie. Die Füße sind in weitem Abstand auf den Boden gepresst, wie zur Stabilisierung ihres von den gewaltigen Sprechanstrengungen bewegten Körpers. Sie weiß die unterschiedlichen Abschnitte zu phrasieren, die Dialoge und die inneren Monologe. Diese stehen im lebhaften Wechselspiel. Gefällige Beschreibungen äußerer Dinge kommen hinzu. Großmann richtet sich auf, geht aus sich heraus, mimt mit der einen Hand das Schiffsglockenklingeln, mit der anderen die Abweisung des Dieners, als der Heizer mit Karls Zuspruch und Unterstützung beim Kapitän vorsprechen und mehr Gerechtigkeit für sich fordern will.
Immer öfter richtet sie den Blick kurz vom Manuskript weg hinein ins Publikum. Mit zunehmendem Ausdruck und Tempo reißt sie die Zuhörer mit zum Höhepunkt. Immer mehr Stimmen kommen hinzu, die des Kapitäns, des Senators, des Vorgesetzter, des Heizers, eines Matrosen. Konsequenter Stimmlagenwechsel wird nicht nur schier unmöglich, sondern würde sich wohl auch unmöglich anhören. Es ist kein Kasperltheater. Bald sind eineinhalb Stunden vergangen. Großmann streicht sekundenschnell im Reden mit den Fingern über die Lippenmuskulatur. Immer öfter verfrachtet sie ihre warme Mähne von den Wangen weg auf den Rücken.
Dann sitzt Karl gezwungenermaßen im Beiboot gegenüber dem Senator, der sich nebenbei als sein unbekannter Onkel aus Amerika erwiesen hat, und fragt sich, ob dieser ihm jemals eine so gute Gesellschaft sein könne, wie es der Heizer war.
Großmann schaut jetzt unverwandt ins Publikum, das begeistert applaudiert. Ihr Strahlen wird heller, überaus weiblich. "Dankeschön", sagt sie bescheiden und glücklich zugleich. Und dann noch: "Das war eine schöne Geschichte." Dem war nichts mehr hinzuzufügen.
Ungewöhnlich leise war es, als sich die Gäste erhoben und langsam Richtung Ausgang gingen.
aki

14. Februar 2003, 20.00 Uhr
Mechthild Großmann las
"Der Heizer"
Deutsches Literaturarchiv
Marbach am Neckar
Humbold-Saal


Mit freundlicher Unterstützung der Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG, Stuttgart





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