Münstersche Zeitung, 12. Februar 2003

Kafka für die Staatsanwältin

MÜNSTER - Sie war Medea am münsterschen Stadttheater und begeistert ein Millionenpublikum als Staatsanwältin Wilhelmine Klemm im Westfalen-"Tatort": Schauspielerin Mechthild Großmann. Jetzt gastiert die gebürtige Münsteranerin mit der fabelhaft tiefen Stimme wieder in der Domstadt. Am kommenden Sonntag liest sie das Kapitel "Der Heizer" aus Franz Kafkas Roman "Der Verschollene" im Hot Jazz Club. Mit der Künstlerin sprach Redakteur Manuel Jennen.

Verglichen mit anderen Kafka-Erzählungen ist "Der Heizer" ein recht ruhiger Text ohne äußere Dramatik, er schildert die Begegnung eines jungen Auswanderers mit einem unglücklichen Heizer auf einem Ozeandampfer. Warum haben Sie diese Geschichte ausgewählt?

Großmann: Kafka-Texte sind oft nicht so dramatisch, wie man sie in Erinnerung hat. Nehmen Sie "Die Verwandlung": Natürlich ist die Käfer-Geschichte spektakulär, aber dann geht die Mutter aus dem Zimmer und der Vater ins Zimmer und so weiter. Diese kleinen Alltäglichkeiten sind wichtig, darin steckt bei Kafka eine ganze Welt. Und, was immer übersehen wird, sie sind oft saukomisch. Kafka war nicht der bleiche, depressive, lebensunfähige Jüngling, als der er immer dargestellt wird. Er hatte Witz und kannte sich mit Bosheiten bestens aus. "Der Heizer" enthält all das - und er bietet sich mit rund 90 Minuten Länge für eine Lesung an.

Wie interpretieren Sie den Text in der Lesung? Gibt es Musik, Bilder, eine Moderation?

Großmann: Nein, ich lasse die Worte für sich sprechen. Ich lese aus der Kritischen Kafka-Edition von Hans-Gerd Koch, und das ist eine besondere Herausforderung, denn die Ausgabe folgt exakt der Handschrift. Da gibt es nicht nur "Sophas" mit ph, sondern manchmal seitenlang kein Komma. Aber wenn man sich eingearbeitet hat, merkt man, dass Kafkas Rechtschreibung Sinn macht, dass Wortspiele und -kaskaden viel schärfer zu Tage treten. Früher hatte ich vor diesen Texten einen Riesen-Respekt und habe sie sehr sachlich gelesen. Aber Kafka selbst hat einmal gesagt: "Ich lese höllisch gerne vor" - und so sollten seine Werke auch klingen.

Sie kommen zwar aus Münster, leben heute aber in Hamburg und hatten jahrelang in Ihrer Heimatstadt nicht gearbeitet. Seit "Medea" im Jahr 2001 hat sich das schlagartig geändert: Sie haben im Sinfoniekonzert bei der viel beachteten Uraufführung des Melodrams "Cruci-Verba" von Azio Corghi und Autor José Saramago mitgewirkt, spielen im "Tatort" - und jetzt Kafka: Ist diese berufliche Heimkehr geplant?

Großmann: Nein, überhaupt nicht, sie ist reiner Zufall! Zur Medea bin ich gekommen, weil mich die Regisseurin Karin Neuhäuser gefragt hat, mit der ich befreundet bin. Übrigens kannte ich auch Münsters Intendanten Thomas Bockelmann. Er hat mich als junger Regieassistent auf einer Tournee mit dem Stück "Wo meine Sonne scheint" bis nach Amsterdam, Paris und Rom begleitet. Als ich jetzt wieder nach Münster kam, erinnerte er sich noch daran, dass er damals nach den Vorstellungen immer eine eisgekühlte Flasche Wein für mich bereit halten musste.
Beim "Tatort" hat mich ein Kölner WDR-Redakteur vorgeschlagen, den ich noch aus Kindertagen in Münster kannte. Allerdings ging es dabei wohl nicht nur um meine westfälische Herkunft, sondern um den gesuchten Typ für die Staatsanwältin: grob, aber sympathisch.

Wie sehen Sie selbst Ihre Tatort-Rolle?

Großmann: Nun, zunächst bin ich immer noch überrascht über den ungeheuren Erfolg dieser Sendung. Da habe ich in Wuppertal mit Pina Bausch gearbeitet, habe in New York und in Tokio Theater gespielt. Und jetzt stehe ich vor der Fernsehkamera und sage zu meinem Kommissar-Kollegen "Gute Arbeit, Thiel" - und plötzlich erkennen mich meine Nachbarn, und im Blumenladen werde ich freundlich gegrüßt. Selbst die intellektuellsten Leute sagen: "Das macht ihr toll."

Wie erklären Sie sich den Erfolg des Münster-Tatorts?

Großmann: Die Morde sind einfach anders. In den Großstadt-"Tatorten" ist alles ziemlich anonym, aber in Münster ist die familiäre Atmosphäre der Stadt in die Krimihandlungen eingeflossen. Da steckt der Täter im Bekanntenkreis, und die Staatsanwältin geht auf seine Gartenparty.

16. Februar 2003, 20.00 Uhr
Mechthild Großmann las
"Der Heizer"
Hot Jazz Club
Hafenweg 26b
48155 Münster






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Westfäliswche Nachrichten, 18.Februar 2003

Messerscharf mit gebeiztem Raunen
Mechthild Großmann las aus Kafkas "Amerika"

Der Hafen von New York bildet die Kulisse von Franz Kafkas Meister-Erzählung "Der Heizer". Hier begrüßen den 16-jährigen Karl Rossmann bei seiner Ankunft in der neuen Welt die "Freiheitsgöttin", und hunderttausend Fenster von Wolkenkratzern blicken ihn an. Zugegeben: Der Hafen Münsters nimmt sich dagegen äußerst bescheiden aus. Doch einen imposanteren haben wir halt nicht - und der erfüllte atmosphärisch seinen Zweck, als Mechthild Großmann die Erzählung am Sonntag im Hot Jazz Club vorlas. In herrlicher Manier erweckte sie die geniale Miniatur vor dem inneren Auge der Zuhörer zum Leben.

Bei der Lesetour "Kafka erLesen" die von der Kafka-Forschungsstelle in Wuppertal organisiert wird, nutzen prominente Rezitatoren ungewöhnliche Orte, die mit der Handlung der Kafka-Texte korrespondieren. Doch noch mehr Atmosphäre, als Mechthild Großmann mit ihrer einmaligen Stimme zu zaubern verstand; brauchte es freilich nicht; die ist von jener Art, die den Hörer sofort in Bann schlägt: Tief dunkel vibrierend - ein Raunen, das klang, als sei. es im Kohleofen des Heizers gebeizt worden.

Mit diesem vierschrötigen Kerl freundet sich die Hauptfigur Karl Rossmann an, der - von seinen Eltern "verbannt" - nun ganz allein dasteht. Als der Heizer sich beim Kapitän des Schiffes über seinen Vorarbeiter beschweren will, schlägt die Stunde des schüchternen jungen Mannes: Leidenschaftlich schwingt er sich zum Anwalt des verbal unbeholfenen Heizers auf. Der fast kindliche Wunsch nach Gerechtigkeit und das Gefühl, sich behaupten zu können, berauschen den jungen Helden. Wenn ihn jetzt seine Eltern sehen könnten, wie er im fremden Land "das Gute verfocht"!
Doch am Ende entgleitet Karl die Situation, als sich sein ihm unbekannter Onkel aus Amerika zu erkennen gibt. Dieses erste Kapitel aus Kafkas "Amerika"-Roman ist ein Meisterstück für sich. Humorig, psychologisch messerscharf und mit rührender Anteilnahme nimmt die Erzählung ganz die Perspektive ihres Helden ein. Und Mechthild Großmann zeigte sich als Vorleserin par excellence. Den Tumult der Final-Szene breitete die Schauspielerin wie auf einer Bühne aus, jede Figur hatte ihr eigenes (Klang-)Profil.
Die Freude am Kafka lesen, so gestand sie dem Publikum, habe sie erst kürzlich wieder entdeckt - also: "Lesen Sie den mal wieder...!"
Arndt Zinkant, WN, 18.02.03

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Münstersche Zeitung, 18. Februar 2003

Auf Kafkas Traumschiff
Lesung: Großmann

MÜNSTER - Wenn man Kafka liest, möchte man immer eingreifen. Man möchte den Helden beim Arm fassen und ihm zuflüstern, mach das nicht, das bringt doch nichts. Das gilt auch für die Erzählung "Der Heizer", obwohl es hier ausnahmsweise einmal nicht angebracht ist. Zwar verliert Karl Rossmann gleich zu Beginn bei der Ankunft in New York seinen Koffer auf dem Schiff, dafür findet er unter Deck einen leibhaftigen Onkel, der in der Neuen Welt zudem noch die hohe Stellung eines Senators bekleidet. Eine solche Beziehung .ist sicher nicht unpraktisch für einen 16-jährigen Jungen, der von seinen Eltern über den Großen Teich abgeschoben wurde, weil er das Dienstmädchen geschwängert hat.

Perfekt einstudiert

Es geht einfach ein bisschen freundlicher zu in Kafkas Amerika-Roman, der kürzlich unter dem Titel "Der Verschollene" neu herausgegeben wurde und aus dem die Schauspielerin Mechthild Großmann im Hot Jazz Club in Münster das erste Kapitel "Der Heizer" las. Großmann hat nicht nur eine wunderbar tiefe Stimme, sondern offenbar auch eine sehr verantwortungsbewusste Auffassung von ihrem Beruf, denn die Lesung ist perfekt einstudiert und wird entsprechend souverän über die Bühne gebracht. Das ist bei den sorgfältig verschachtelten Sätzen, die diesen Text prägen, keine Selbstverständlichkeit.
Dabei überrascht die Schauspielerin durch eine beachtliche Wandlungsfähigkeit in Gestus und Ausdruck. Wenn der Heizer zu Wort kommt, wird ihre Diktion proletarisch breit. Die Stimme klingt dann, als käme sie wirklich aus den tiefsten Tiefen das Maschinenraums. Oder aus dem innersten der Erde selbst. Dem Kapitän verleiht sie eine geradezu preußisch anmutende Autorität, während bei der großspurigen Leutseligkeit des Onkels jeder Kommunalpolitiker vor Neid erblassen würde.
Für Karl Rossmann selbst hält sie eine ganze Bandbreite an Tönen bereit - je nachdem, ob dieser sich gerade als Retter der Unterdrückten fühlt oder als grüner Junge, der sich von den Autoritäten einschüchtern lässt. Vor allem aber holt sie aus dem Text die für Kafka so typische groteske Komik heraus, die von der allgemeinen Literaturwissenschaft lange Zeit übersehen wurde.
Helmut Jasny, MZ, 18.02.2003

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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