Westdeutsche Zeitung, 26. Mai 2003

Mechthild Großmann.
Die Abgründe der Menschen
Mechthild Großmann las im Club 45rpm Kafkas Erzählung "Das Urteil".


Wuppertal. "Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr" lässt Franz Kafka seine kurze Erzählung "Das Urteil" beginnen, die er in der Nacht vom 22. September 1912 niedergeschrieben hat und die seine produktivste Schaffensphase auslöste. Da trifft den jungen Kaufmann Georg Bendemann, der sich in Gedanken an seinen Freund in Petersburg verliert und gerade in Hochzeitsvorbereitungen steckt, fast wie aus heiterem Himmel Fluch und Urteil seines vernachlässigten Vaters. "Ich verurteile Dich zum Ertrinken!" lässt er den seiner Meinung nach missratenen Sohn wissen, der der Aufforderung prompt wie in Trance per Suicid nachkommt.
Der seiner Verlobten Felice Bauer gewidmete Text zählte zeitlebens zu den liebsten des Autors, und er hat ihn selbst "höllisch gerne" vorgetragen. Ähnlich motiviert gab sich jetzt die Schauspielerin Mechthild Grossmann beim dritten Auftritt im Rahmen der Reihe "Kafka: ErLesen!", als sie "Das Urteil" mit ihrer unverwechselbaren, aber doch modulationsfähigen Stimme vortrug. Sie lässt dem Stück Prosa das Rätselhafte, Geheimnisvolle, das den Leser unmittelbar über Autobiografisches, eine Vater-und-Sohn-Tragödie und menschliche Abgründe spekulieren lässt.

Die Geschichte wurde zwar nicht völlig zum Bühnen-, aber zumindest zum Hördrama. Den jungen Kaufmann stattete sie stimmlich mit gehörig persönlicher Eitelkeit und Karrieresucht aus, die Braut mit Naivität, die berechnend wirkt. Die Figur des Vaters steigerte sich allmählich von der repressiven Figur zum monströsen Übervater, der wie eine Gestalt aus den Grüften von Edgar Allan Poe schreckliche Rache üben will und die Fäden des Geschehens stets in der Hand hielt. Es gelang Mechthild Großmann, den Text auch anhand der geschilderten Beiläufigkeiten mit einer gehörigen Portion Psychologie aufzuladen.

Hans-Georg Koch von der Kafka-Forschungstelle der Universität, der mit Christian Watty die Lesetour organisierte, verwies zuvor auf das biografische Umfeld des Entstehens der Erzählung. Mechthild Großmann las die Texte der entsprechenden Zeitzeugen. Aufschlussreich war für Wuppertaler das abschätzige Urteil Franz Kafkas über Else Lasker-Schüler. Als "Kuh vom Kurfürstendamm" soll er sie anlässlich eines ihrer exzentrischen Prinz-von-Theben-Auftritte in Prag bezeichnet haben.
(Von Frank Scurla)

23. Mai, 20.00 und
25. Mai 2003, 19.00

Mechthild Großmann las
"Das Urteil"
45 RPM
Alte Freiheit No. 3
Wuppertal - Elberfeld








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