Neues Deutschland, 12. Februar 2002

"Witwen"-Gespräch
"Kafka: erLesen" macht Literaturwerbung in Berlin

Von Ulrike Grohmer

Acht seiner Prosastücke wurden 1908 zum ersten Mal in der Zeitschrift "Hyperion" veröffentlicht. 1912, nach der Publikation der "Betrachtungen", war Franz Kafka (1883-1924) als Schriftsteller anerkannt, anerkannt unter seinesgleichen. Der bei Ernst Rowohlt in 800 Exemplaren erschienene Text galt als unverkäuflich, die Auflage war bis zu Kafkas Tod lieferbar. Erst die ab 1919 in der Verlagsreihe "Die neue Dichtung" erschienenen Arbeiten "In der Strafkolonie" und "Ein Landarzt" machten den Autor einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Und wer liest heute diesen Dichter, der lange als Mystiker und irrationaler Prophet galt? - Viel zu wenig Menschen, meinen Hans-Gerd Koch und Christian Watty von der Kafka-Forschungsstelle an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie wollen dem mit "Kafka: erLesen!" abhelfen und berufen sich auf den Autor selbst: Er lese "höllisch gern" vor, schreibt er im Dezember 1912 an die geliebte Felice Bauer, und die Veranstalter ergänzen: Entgegen dem Vorurteil, Kafka sei dunkel, deprimierend und tragisch, könne die Lesetour die Vielschichtigkeit seiner Texte zeigen und ihre humorvollen, komischen Seiten herausstellen.

Der Dichter habe nach dem Gehör geschrieben. In Zeichensetzung, Bau und Gliederung der Sätze sei er allein der Sprachmelodie gefolgt. Zudem habe er sich im Vortrag nicht geschont, habe bei Bedarf gebrüllt oder geflüstert. Eine Ahnung von solcher Wirkung lieferte Mario Adorf, als er im Oktober 2001 Kafkas "In der Strafkolonie" in der Justizvollzugsanstalt Preungesheim vortrug.

Jetzt ist die Tour in Berlin angekommen. Am Sonntag lasen Katharina Thalbach und Fabian Krüger aus "Der Prozeß", am Sonnabend trafen sich mit Verleger Klaus Wagenbach und dem Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Koch zwei "Kafka-Witwen" im Gespräch über den Dichter. Die Lesung war an diesem Abend zweitrangig. Zwei Spezialisten verständigten sich über ihr Fach, über Verlagsgeschichten, über Literatur. So musste Wagenbach zunächst erklären, warum er sich die dienstälteste Kafka-Witwe nennt. Er erinnerte an seine Publikation "Bilder aus seinem Leben" zum 100. Geburtstag des Dichters im Jahr 1983.

Hier sieht er mit Kafkas Augen Orte, an denen jener gelebt hatte. "Und da der mit Kafka eng befreundete Max Brod (1884-1968) zu diesem Zeitpunkt schon lange tot war, hielt ich es für legitim, mich als dienstälteste Kafka-Witwe zu bezeichnen." Schon in den 50er Jahren während seiner Ausbildung im S. Fischer Verlag hatte sich Wagenbach für des Dichters Leben interessiert. Die Biografie Kafkas wurde 1957 Thema seiner Dissertation. Ihn habe der neue Ton fasziniert, der anders als bei den damals weitaus berühmteren Camus und Satre sehr direkt und real gefragt habe, was mit Menschen geschieht, die wie Ungeziefer erniedrigt werden, meint Wagenbach heute. Die Bilder dieses Dichters, seine radikale und einfache Sprache hätten ihn gefangen genommen, der Verzicht auf schwülstige Sätze, die mit Büchner oder Kleist vergleichbare Deutlichkeit. Und er gestehe es gern, er habe bei diesem Franz Kafka durchaus linke Auffassungen entdeckt - in dem oft unterschlagenen Text "Die besitzlose Arbeiterschaft".

Wagenbach berichtete von den schwierigen Lizenzverhandlungen vor der ersten Veröffentlichung Franz Kafkas ab 1950/ 51 bei S. Fischer, erinnerte, leicht nuschelnd und gelegentlich abschweifend, an Verlagsgründungen, Neugründungen, Verlegerstreit - Stichpunkte eines literarischen Puzzles. Spannendes hatte er zu erzählen, zum Beispiel über Kafka-Handschriften, die Max Brod in den vierziger Jahren einem reichen jüdischen Kaufmann und Kunstfreund in Palästina zur sicheren Verwahrung gab. Und davon, wie schwer es diesem fiel, sie später den Erben zurückzugeben, ohne dass er deren Rechte je bestritten oder den Dichter etwa als Privatbesitz reklamiert hätte.

Zum Abschluss des Abends gab es dann doch noch eine kurze Lesung: Wagenbach bot "Erstes Leid" (aus "Ein Hungerkünstler") und Koch "Der neue Advokat" aus "Ein Landarzt".

9.Februar 2002
"Kafka-Witwen" im Gespräch
Hans-Gerd Koch
und Klaus Wagenbach

Berliner Redaktion der FAZ
Mittelstraße

10. Februar 2002, 12.00 Uhr
(Matinée)

Katharina Thalbach und Fabian Krüger lasen
"Der Proceß"
Sitzungssaal des Kammergerichts
Elßholzstraße 30-33
10781 Berlin
Haupteingang im Kleistpark
U-Bahnhof Kleistpark

Katharina Thalbach Fabian Krüger

 

 

 

 

 

 

 

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taz, 12. Februar 2002

Das sanfte Entsetzen
Der Schwitzkasten wird wahrnehmbar:

Die Schauspieler Katharina Thalbach und Fabian Krüger lasen im Berliner Kammergericht aus Franz Kafkas "Prozess

Am Sonntag zum Gericht zu gehen, da fühlt man sich schon ein bisschen wie Josef K., die Hauptperson von Franz Kafkas Roman "Der Prozess". Denn der sucht an einem Sonntag ein Tribunal auf, nachdem er unter völlig unklaren und unaufklärbaren Umständen verhaftet wurde.

Am vergangenen Sonntag machten sich etwa 280 Menschen zum Berliner Kammergericht am Kleistpark auf, um Kafkas Roman zu hören, gelesen von der Regisseurin und Schauspielerin Katharina Thalbach und Fabian Krüger vom Maxim Gorki Theater. Die Idee, Kafkas Werke an besonderen Orten von bekannten Schauspielern lesen zu lassen, stammt von der Kafka-Forschungsstelle in Wuppertal.

Mit dem Reiseprojekt "Kafka: erLesen" will man neues Interesse für die Werke des Prager Schriftstellers wecken: bislang waren unter anderem Mario Adorf mit der "Strafkolonie" in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim zu hören und Hanna Schygylla im Tierpark Hagenbeck in Hamburg. Nun also Berlin mit einem ganz besonderem Ort: Im Kammergericht wütete Roland Freislers Nazi-Volksgerichtshof.

Der Zufall sorgte für eine kafkaeske Szene: Statt der erwarteten 30 Leute, die sich im Vorverkauf eine Karte besorgt hatten, kamen unangemeldet 280. Ein neuer Saal wurde fällig, ein Saal, in dem Volksgerichtshofpräsident Freisler viele politische Angeklagte, darunter auch die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, zum Tode verurteilt hatte. Aus Respekt vor den Opfern bleibt dieser Saal ganz besonderen Anlässen wie dieser Lesung vorbehalten.

Katharina Thalbach - in rotem Pullover auf dem Sessel des Vorsitzenden platziert - beginnt die Lesung mit dem Anfang des Romans: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Thalbach gibt dem bedrohlichen ersten Kapitel, in dem Josef K. gegen seine Hilflosigkeit rebelliert, einen eher sanften Akzent. Das Diabolische des Textes am diabolischen historischen Ort wird dadurch etwas runder geschliffen. Dennoch gelingt es der Thalbach, den Schwitzkasten, in den die Wärter Josef K. mit Worten packen, geradezu körperlich wahrnehmbar zu machen. So bleibt die ganze Zeit über die Frage im Kopf, die anfangs der stellvertretende Gerichtsvorsitzende in den überfüllten Saal geworfen hatte: Josef K. wird zum Objekt einer Justiz, die er nicht versteht und nicht verstehen kann. Lässt sich das vergleichen mit den Opfern des Volksgerichtshofs?

Fabian Krüger lässt das offene Entsetzen dann auch eher weiter schwinden, weil er die Begegnung zwischen Josef K. und dem Gerichtsgeistlichen so milde vorträgt wie Hermann van Veen die Begegnung zwischen einem Kirchgänger und Gott. Das ist gar nicht schlecht, denn das Gespräch, das Josef K. kurz vor seiner Hinrichtung im Dom führt, ist beunruhigend genug: Die Worte des Geistlichen sind trostlos, das Gleichnis von dem Landmann, der das Gesetz sucht und vom Türsteher abgewiesen wird, gegen alle Hoffnung gerichtet.

MARTIN FORBERG


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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