Welt am Sonntag, 9. Dezember 2001

"Am liebsten hätte ich neben mir einen lebenden Affen"
Hanna Schygulla liest in Hamburg aus Franz Kafkas "Bericht an eine Akademie"

Von Katja Engler, Hamburg

War Kafka wirklich so depressiv, wie die Nachwelt ihn gern schildert? Und hat er nur für die einsame Lektüre geschrieben? Nein, behaupten zwei Wuppertaler Literaturwissenschaftler, die als Herausgeber einer kritischen Kafka-Ausgabe zu den Spezialisten zählen. "Kafka", weiß Christian Watty, "hat mit Freuden seine Texte vorgelesen und sich zu Tode amüsiert dabei. Und inzwischen steht auch fest, dass er sie zum Vortragen geschrieben hat."

Diese Erkenntnis ließ Watty und Kompagnon Hans-Gerd Koch ein ehrgeiziges Projekt aushecken, das die Literatur, gelesen von guten Schauspielern, an die Orte ihres Geschehens zurückbringt. Am Mittwoch um 20 Uhr liest die Schauspielerin Hanna Schygulla nun den "Bericht an eine Akademie" im Tierpark Hagenbeck. "Am liebsten hätte ich neben mir einen lebenden Affen im Käfig gehabt", gesteht La Schygulla, wie die Franzosen sie ehrfurchtsvoll nennen. Die eingesperrte Kreatur blickt auf ihr Publikum, das der Geschichte einer eingesperrten Kreatur lauscht ... Schygulla hat Recht. Aber wäre das tierfreundlich?

Den "Bericht an eine Akademie" hat sie sich aus mehreren Vorschlägen ausgesucht, denn "er zeigt eine sehr originelle Betrachtungsweise angesichts der Tatsache, dass sich der Mensch ja immer dem Tier übergeordnet fühlt und in diesem Bewusstsein auch die schrecklichsten Dinge mit den Tieren anstellt. In dieser Erzählung wird das mal von der anderen Seite gesehen, und der Abgrund, das scheinbar Unüberbrückbare zwischen Tier und Mensch, ist für einen Moment aufgehoben." Kafka lässt den Affen Rotpeter sich so extrem an seine menschliche Umwelt anpassen, dass er schließlich der menschlichste aller Menschen geworden zu sein scheint. "Die Kunst, wenn sie wirklich stark ist, hat ja auch etwas von dem, was unsere Träume haben. Da geht das Unbewusste lawinenartig los, und dann wird es in eine Form gebracht. Das ist bei Kafka ganz stark", findet Hanna Schygulla. Von Kafka kennt sie einiges. Deshalb, und weil ihr die ganze Idee gefiel, zögerte sie nicht, als die beiden Literaturwissenschaftler fragten, ob sie dabei sei - neben Mario Adorf, Susanne Lothar, Ulrich Mühe, Katharina Thalbach und Dirk Bach, der übrigens den "Hungerkünstler" im Maggi Kochstudio lesen wird.

"Man gibt jahrelang Bücher heraus und fragt sich, wer die eigentlich liest", erklärt Hans-Gerd Koch seinen Willen, Kafka populärer zu machen. Watty hatte dagegen von einer Bekannten erfahren, dass Ben Becker bei einem privaten abendlichen Besuch spontan Kafka vorgelesen habe - "und die waren alle begeistert". Warum die Welt heute also die Texte von Franz Kafka braucht - dieses überwiegend eigenfinanzierte Projekt will eine Antwort darauf geben, die noch nicht jeder kennt. Kafkas Rotpeter, der im Galopp zum Menschen geworden ist, hat sich mit dem hohen Preis der Selbstverleugnung ein Stück der früheren Freiheit zurückerobert. Zu Hause aber lebt er mit einem halb dressierten Affenweibchen zusammen: "Ich glaube, dass da, wo unsere Lustwiesen beginnen, wo wir genießen, oft die Herrschaft der Gebote aufhört. Da sind wir noch sehr nahe dran an dem, was wir mal waren, sei es als Säugling, als Kleinkind oder als Tier." Hanna Schygulla hält auch den Rotpeter "nicht unbedingt für eine männliche Figur". Doch lesen wollte sie als Frau gerade den "Bericht an eine Akademie", "weil der bisher fast nur von Männern gelesen wurde". Nur die Erste, die ihn vorgetragen hat, war eine Frau: Elsa Brod, Autorin und Rezitatorin. Auch aus dem Brief, den sie nach ihrer Lesung an Franz Kafka schrieb, wird Hanna Schygulla am Mittwoch vorlesen.

12. Dezember 2001
Hanna Schygulla las
"Ein Bericht für eine Akademie"
Hangenbecks Tierpark
Alte Hagenbeck'sche Dressurhalle
Hamburg


© 2001 dirk räppold
www.formvorrat.de

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Hamburger Morgenpost, 14.12.2001

Hanna Schygulla las bei Hagenbeck aus "Bericht für eine Akademie"
"Kafka lesen im Tierpark"

Kafka - das waren dunkle Geschichten voll mystischer, mitunter fast depressiver Anspielungen auf die Gesellschaft seiner Zeit. Das war gelangweiltes Sitzen auf Schulstühlen oder - meist später - in verrauchten Wohnzimmern, Rotwein trinkend und diskutierend in schwarz gekleideten Gruppen auf dem harten Fußboden.

Kafka neu zu "erLesen", haben sich jetzt zwei Wuppertaler Literaturwissenschaftler auf die Fahnen geschrieben, um die Vielschichtigkeit seiner Texte zu zeigen und auch die humorvollen Seiten zur Geltung zu bringen. So lesen nun prominente Schauspieler an passend ausgewählten Orten aus Kafkas Texten. Am Mittwoch war es Hanna Schygulla, die in Hagenbecks Tierpark aus "Ein Bericht für eine Akademie" las.

Ein passender Ort, ist es doch der Menschenaffe Rotpeter, der berichtet, "eine Expedition der Firma Hagenbeck" habe ihn an der Goldküste gefangen und nach Europa gebracht.

"Ich habe immer davon geträumt", sagt Hanna Schygulla, "das mit einem echten Affen zu machen. Man hat es abgelehnt. Das würde der Affe nicht verkraften." Gelacht hat das Publikum trotzdem - und sicher auch Lust bekommen, zu Hause noch einmal in den "Gesammelten Werken" Kafkas nachzulesen.

Kirsten Schmidt

 

 

 

 

 

 

 

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DIE WELT, Freitag 14. Dezember 2001

Kafkaesk im wahrsten Unsinne des gesprochenen Wortes
Hanna Schygulla las in Hagenbecks Tierpark

Da sitzen doch tatsächlich fünf erwachsene Kindsköpfe als Zuhörer in der Dressurhalle von Hagenbecks Tierpark und halten abwechselnd einen menschengroßen Stoffaffen auf dem Schoß, um ihm das Lesevergnügen von Franz Kafkas "Bericht für eine Akademie" zu gönnen. Welch haarig äffische Fehleinschätzung angesichts der grotesken und ironischen Schilderung vermenschlichten Affentums. Hanna Schygulla als Vorleserin hätte allerdings gern einen lebendigen Primaten im Käfig neben sich gehabt, um die literarische Viecherei noch drastischer vor Augen zu führen. "Kafka erLesen" heißt die wunderbare Reihe, in der prominente Schauspieler Kafka-Erzählungen an den ihnen gemäßen Orten sinnlich erfahrbar machen. Vermutlich hätte der Autor eine tierische Freude an dieser Soirée gehabt, hatte er selbst doch "höllisch gern" vorgelesen. So las Hanna Schygulla, die einstige Faßbinder-Muse, mit dem heiter-elegischen, gelassenen Tonfall eines Subjekts, das die Evolution vom Affen zum Menschen als einen eigenen Akt des Willens bewältigt hat und jetzt vor der Akademie einen Bericht seines äffischen Vorlebens gibt.

Die Schygulla, streng stilisiert mit elegantem, schwarzen Trümmerfrauen-Turban, vermeidet jeglichen theatralischen Effekt. Sie spürt der eigenwilligen Zeichensetzung Kafkas musikalisch nach - im weich verschliffenen Tonfall einer Süddeutschen, die seit langem in Paris lebt. Und was hat Kafkas "Bericht" in der Dressurhalle zu suchen? Auf Hagenbecks Dampfern wurden einst die an der Goldküste gefangenen Affen nach Hamburg gebracht. Hier kamen sie in den Zoo - oder ins Varieté, wo sie als "Gentleman-Schimpansen" verkleidet, Künstlerstatus besaßen. Kafkas Rotpeter war Künstler.

(MN)

 

 

 

 

 

 

 

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