Kafkas
Roman 'Der Proceß"
Nach langem
Ringen um eine Entscheidung verloben sich der Prager Versicherungsbeamte
Franz Kafka und die Berliner Direktrice Felice Bauer im Frühjahr
1914. Sechs Wochen nach der offiziellen Verlobungsfeier wird Kafka von
seiner Verlobten bei einem Besuch in Berlin mit Briefen konfrontiert,
die er an eine gemeinsame Freundin gerichtet hat und in denen er sich
negativ über die Aussichten einer Ehe äußert. Die Aussprache
im Hotel Askanischer Hof führt zur Auflösung der Verlobung.
Rückblickend auf dieses Ereignis spricht Kafka in seinem Tagebuch
vom "Gerichtstag im Hotel" und stellt fest: "es läßt
sich nichts oder nicht viel gegen mich sagen. Teuflisch in aller Unschuld."
"Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß
er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."
Kaum zwei Wochen nach dem einschneidenden Ereignis im Askanischen
Hof beginnt Kafka mit diesen Worten die Niederschrift seines Romans 'Der
Proceß' - und zwar auf eine für ihn uncharakteristische Weise:
Entgegen seiner Gewohnheit, Geschichten ohne Vorplanung zu beginnen, sie
Szene für Szene sich linear entwickeln zu lassen, bringt er zunächst
das Anfangs- und das Schlußkapitel des Romans zu Papier. Die Gefahr
des Abirrens, die mit seiner bis dahin geübten Arbeitsweise verbunden
war, ist ihm von der Arbeit an seinem Roman 'Der Verschollene', der ihm
unter den Händen "auseinandergelaufen" war, noch schmerzlich
in Erinnerung. Diesmal versucht er, durch den bereits festgelegten Schluß
den Weg dorthin geradezu zu erzwingen.
Aber auch die Geschichte zwischen Verhaftung und Hinrichtung des Helden
Josef K. entwickelt Kafka nicht wirklich linear: Er arbeitet gleichzeitig
an einer Reihe von Kapiteln, die als Stationen auf dem Weg des Protagonisten
durch sein Leidensjahr gedacht und in der Handlung oft nur lose miteinander
verknüpft sind, wobei die Reihenfolge ihrer Entstehung nicht immer
der Abfolge des Romangeschehens entspricht. Immer wieder steigt er an
verschiedenen Stellen in den Roman ein, führt einmal dieses, einmal
jenes schon begonnene Kapitel fort oder beginnt ein neues.
Die Arbeit am Roman verläuft zunächst über mehrere Wochen
zufriedenstellend; in den beiden ersten Monaten entstehen rund 200 Manuskriptseiten,
dann gerät Kafkas Schreibfluss ins Stocken. Im Tagebuch notiert er
am 7. Oktober 1914:
"Ich
habe mir eine Woche Urlaub genommen, um den Roman vorwärtszutreiben.
Es ist bis heute - heute ist Mittwochnacht, Montag geht mein Urlaub zuende
- mißlungen. Ich habe wenig und schwächlich geschrieben. Allerdings
war ich schon in der vorigen Woche im Niedergang; daß es so schlimm
werden würde, konnte ich nicht voraussehn."
Die
Klagen über ein "jämmerliches Vorwärtskriechen der
Arbeit" mehren sich in den folgenden Wochen; als Kafka im Januar
1915 den Roman unvollendet aufgibt, hat er den ersten 200 nur noch etwa
100 weitere Seiten hinzufügen können.
'Der Proceß' ist in zehn Heften entstanden, die Kafka auch für
die Niederschrift anderer Texte verwendete. Die 'Proceß'-Blätter
hat er später aus diesen Heften herausgetrennt und sie nach abgeschlossenen
und noch fragmentarischen Kapiteln sortiert. In dieser Form werden sie
bis auf den heutigen Tag aufbewahrt.
Im Gegensatz zu Kafka, der seinen Roman für künstlerisch völlig
mißlungen hielt, bezeichnete sein Freund Max Brod den 'Proceß'
bereits 1921 als "Kafkas größtes Werk". Bereits 1925,
ein Jahr nach Kafkas Tod, brachte er den Roman als ersten Band seiner
Edition aus dem Nachlaß des Freundes heraus, wobei er dem Werk dadurch,
daß er die unvollständigen Kapitel nicht aufnahm, den Anschein
der Vollendung gab.
Der mit Kafka befreundete große Rezitator Ludwig Hardt schrieb nach
dem Erscheinen der ersten Ausgabe:
"Im
'Prozeß' träumt das Gewissen des Dichters - das Ethos- und
das Angstgruben-Gewissen - , träumt des Dichters und unser aller
Gewissen den Albdruck irdischer Gerichtsbarkeit. So sehr ist dieses Buch
ein Traum, daß alle, alle Träume aller Dichter dagegen ein
lieblicher Wirrwarr oder ein phantastisches Gepolter sind."
Hermann
Hesse stellte fest:
"Es ist nicht diese oder jene einzelne Schuld, wegen welcher der
Angeklagte vor Gericht steht, sondern es ist die Urschuld allen Lebens,
die unentrinnbare."
Und
Kurt Tucholsky beendete seine Besprechung mit den Worten:
"Wir
dürfen lesen, staunen, danken."
Die
Lesungen beruhen auf dem Text der im S. Fischer Verlag erschienenen kritischen
Ausgabe des Romans. Sie folgt Kafkas Manuskript und bietet - ebenso wie
die daraus hervorgegangene Taschenbuchausgabe - den authentischen Text.
Die Reihe
Kafka: erLesen! verfolgt das Prinzip,
dem Inhalt der Texte Kafkas angemessene Orte zu wählen. Für
diese Düsseldorfer Veranstaltung wurden die insgesamt zehn Kapitel
des Romans auf fünf Lesungen von jeweils ca. eineinhalb Stunden und
eine etwas längere Lesung mit Pause verteilt.
Die zuvor beschriebene nicht lineare Entstehungsgeschichte der einzelnen
Kapitel und die Tatsache, dass es keinen wirklichen chronologischen Handlungsverlauf
zwischen den einzelnen Stationen des Josef K. in dieser Geschichte gibt,
erlauben es, jedes Kapitel als eine in sich abgeschlossene Einheit zu
präsentieren. Das heißt:
Jede
der sechs Lesung im Rahmen des Düsseldorfer Festivals Altstadt Herbst
2002 kann als eigenständige Veranstaltung besucht werden, in der
zur Einleitung die wichtigen Informationen zu den vorausgegangenen Kapiteln,
also das "Was bisher geschah...", zusammengefaßt wird.
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